Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine wird Ihr Land bereit sein aufzunehmen? – Kateryna Odarchenko
Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine wird Ihr Land bereit sein aufzunehmen? – Kateryna Odarchenko
Der Leiter einer der angesehensten NGOs in der Ukraine wandte sich an die deutschen Politiker und Leiter der Länder. In ihrem offenen Brief fordert Frau Odarchenko aktives Handeln zur Verteidigung der Ukraine sowie eine Ausweitung der Flüchtlingsaufnahmeprogramme.
Natürlich werden solche Initiativen von einigen Bundesländern übernommen. Außerdem stellen wir den Aufruf der NGO „Institut für Demokratie und Entwicklung „PolitA“ im Volltext zur Verfügung. Bemerkenswert ist, dass das Team von Odarchenko lange Zeit zuvor in Straßburg und Brüssel mit den Fragen der Integration der Ukraine in die EU gearbeitet hat.
Bitte beachten Sie, dass die Situation kritisch ist. Aber Deutschland wird den Ukrainern helfen, den russischen Angriff zu überwinden. Entweder der Sieg der Ukraine und globaler Demokratie mit Hilfe von Deutschland oder der demographische Angriff von Putin gegen Deutschen.
Sieg oder Exodus
Wir wenden uns an Sie als Team der Nichtregierungsorganisation „European Way of Ukraine“, deren Aufgabe es ist, die Ukraine bei einem möglich zeitnahen Eintritt in die Europäische Union zu helfen. Da eine wirksame Zusammenarbeit zwischen uns im Rahmen dieser Kampagne der Ukraine und Deutschland dabei helfen würde, das menschliche Leid infolge des Krieges zu verringern, möchten wir an Sie appellieren, unser Ersuchen mit größtem Wohlwollen zu betrachten. Zuallererst möchten wir Deutschland unseren Dank für die immense Unterstützung und Hilfe aussprechen, die die Ukraine derzeit erhält. Und obwohl in der Öffentlichkeit viel über das mangelnde Ausmaß und die zeitlichen Verzögerungen dieser Hilfe zu hören ist, können wir jedoch feststellen, dass die deutsche Gesellschaft die durch den Einmarsch der Russischen Föderation ausgelöste Katastrophe allmählich realisiert.
Unser Team versammelt Mitglieder der ukrainischen Gesellschaft, deren Sichtweise auf die gegenwärtige Situation und ihre Aussichten sich etwas von den übermäßig hoffnungsvollen Gefühlen unterscheidet, die häufig mit den Analysen des russischen Angriffs auf die Ukraine einhergehen.
Trotz unserer unerschütterlichen Liebe zur Ukraine sowie ihrem Volk und trotz der nicht wenigen taktischen Erfolge des ukrainischen Militärs, wie dem Sieg in der Schlacht um Kiew, der Befreiung des Brückenkopfes bei Mykolaiv und der Zerstörung des Raketenkreuzers Moskwa, befürchten wir, dass sich die Gesamtlage des Krieges bei der gegenwärtigen Höhe der Unterstützung durch die Partnerländer kaum verbessern wird. Vielmehr ist es bei dem derzeitigen Tempo und Umfang der Unterstützung höchstwahrscheinlich, dass die Russen an fast jedem Frontabschnitt einen erdrückenden Vorteil erlangen könnten.
Dennoch kämpfen wir tapfer weiter– nicht weil der Rest der Welt unsere Tapferkeit bewundert, sondern weil wir unser Heimatland lieben. Jedoch gehen wir in unserem Kampf an die äußerste Grenze des Leistbaren und unsere Reserven sind nahezu erschöpft. Wir haben einen kritischen Mangel an militärischer Ausrüstung. Die alte sowjetische Ausrüstung, die wir hatten, ist größtenteils zerstört, sodass der Gegner in vielen Fällen die Verteidigungslinie durchbrechen könnte. Dazu kommen zunehmende Probleme, hinreichende Mengen passender Munition zu beschaffen sowie beschädigtes Gerät instand zu setzen. Russland hingegen verfügt weiterhin über beträchtliche Reserven an Ausrüstung und Munition. Wir befürchten, dass wir bei der derzeitigen Form der Militärhilfe nicht in der Lage sein werden, die Verluste rechtzeitig auszugleichen, die die ukrainische Armee aufgrund der unzureichenden Ausstattung mit Waffen verschiedener Art erleidet.
Zwar besteht ein großer Vorteil darin, dass wir über eine hohe Zahl erfahrener und motivierter Freiwilliger verfügen, die seit 2014 die Schmelztiegel der Kämpfe im Donbass durchlaufen haben. Wir haben jedoch nichts, um diejenigen auszurüsten und zu bewaffnen, die über militärische Spezialkenntnisse verfügen, beispielsweise Panzerfahrer, Artilleristen, Flugabwehrschützen, Piloten und Raketenwerfer. Jeden Tag untergraben Raketenangriffe, großkalibriger Artilleriebeschuss mit großer Reichweite und Luftangriffe, bei denen Flugzeuge riesige Bomben auf die friedliche Bevölkerung abwerfen, die Fähigkeit der Ukraine Widerstand zu leisten. So könnte auch die Zerstörung sämtlicher Städte der Ukraine unvermeidlich sein, wenn es nicht zu einer drastischen Erhöhung der Lieferungen von Waffen und Gerät kommt.
Wir glauben an unseren Sieg! Aber das ist nur mit umfassender militärischer Hilfe des freien Welt – und insbesondere Deutschlands – möglich. Andernfalls könnten die Ukrainer als demografische Waffe eingesetzt werden. Deutschland muss eine Entscheidung treffen. Entweder hilft es uns zu gewinnen oder es wird Millionen ukrainischer Flüchtlinge und eine neue demografische Krise erhalten.
Seit dem 24. Februar hat sich das von Russland besetzte Gebiet der Ukraine erheblich vergrößert und könnte noch weiter anwachsen.
Es liegt auf der Hand, dass das Leben der Ukrainer in den besetzten Gebieten weiter unerträglich sein wird. Das Schicksal der Ukrainer, die in den von Russland besetzten Städten und Dörfern leben, gibt uns und unseren Landsleuten keinen Anlass zur Hoffnung. Willkürliche Hinrichtungen von Zivilisten, Brutalität und Folter, Vergewaltigung und Plünderung sowie die Versklavung von Menschen treiben alle, die sich in den besetzten Gebieten befinden, zur Flucht. Unter Androhung des Todes wird die erwachsene männliche Bevölkerung gezwungen, für die Russische Föderation zu kämpfen. Die Verluste der militärischen Einheiten werden auf Kosten der versklavten Zivilbevölkerung ausgeglichen. Russland praktiziert das Konzept des totalen Krieges und der verbrannten Erde, bei dem die Russen die zivile Infrastruktur und Wohngebäude als militärische Objekte betrachten und die Zivilbevölkerung, die keine Bedrohung für sie darstellt, mit Kombattanten gleichsetzen und ausrotten. In der Ukraine findet derzeit ein Völkermord statt, wie die überwältigende Zahl der abscheulichen Morde zeigt. Infolgedessen hat die Werchowna Rada der Ukraine am 14. April 2022 eine Erklärung zum Völkermord der Russischen Föderation in der Ukraine angenommen.
Wir können auch nicht ausschließen, dass der Aggressor Massenvernichtungswaffen, einschließlich Atomwaffen, einsetzt, was unweigerlich zu einer Abwanderung der ukrainischen Bevölkerung in den Westen führen würde.
Für die wenigen Ukrainer, die bleiben wollen, wird es schwierig sein, in einem zerstörten Land zu leben. Diejenigen, denen es gelingt, könnten weitaus größere wirtschaftliche Schwierig-keiten haben als russische Bürger, die von Sanktionen betroffen sind. In jedem Fall sind alle Voraussetzungen gegeben, um anzunehmen, dass der militärische Zusammenbruch der Ukraine zu einer Abwanderung der ukrainischen Bevölkerung in den Westen führen würde.
In Anerkennung unserer staatsbürgerlichen Verpflichtung, das ukrainische Volk vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren, haben wir als eine Gruppe verantwortungsbewusster ukrainischer Bürger beschlossen, eine koordinierte Umsiedlung der Ukrainer ins Ausland zu planen. Natürlich wird diese Strategie im Falle, dass „der Feind vor den Toren steht“, als letztes Mittel eingesetzt werden. Dennoch befürchten wir, dass dies aufgrund der gegenwärtigen Abfolge der Ereignisse geschehen könnte.
Je nach der Zahl der Flüchtlinge, die Sie aufzunehmen bereit sind, werden wir Familien und Gemeinschaften entsenden. Wir schätzen, dass die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die die Ukraine verlassen können, 25-30 Millionen Menschen umfasst. Dies entspreche nach der aktuellen Entwicklung ungefähr 2,4 Millionen Menschen, die in Deutschland, und 0,5 Millionen Menschen, die in Ihrem Bundesland, Zuflucht suchen würden.
Wir werden alle Ukrainer nachdrücklich auffordern, das Land zu verlassen und mit den staatlichen und kommunalen Verwaltungen zusammenzuarbeiten, damit die Aufrechterhaltung einer entvölkerten Ukraine zu einer erheblichen Belastung für das Besatzungsland wird. Die Versorgung der Ukraine, die unter den Bedingungen einer zerstörten Infrastruktur weder eine arbeitende Bevölkerung noch eine funktionierende Wirtschaft haben wird, wird unserer Meinung nach zu einem wichtigen Faktor für Russland werden, der in Verbindung mit den Sanktionen anderer Länder den endgültigen Zusammenbruch des Aggressorstaates erheblich beschleunigen wird.
Wir bitten Sie daher, konkrete Schritte zu unternehmen, um sich auf die Ankunft einer großen Zahl ukrainischer Flüchtlinge vorzubereiten. Unsere Mitarbeiter recherchieren derzeit, wo es aus organisatorischer Sicht am sinnvollsten wäre, die Flüchtlinge aus den betroffenen Regionen der Ukraine unterzubringen.
Wir glauben, dass das ukrainische Volk in alle Länder der Europäischen Union gehen sollte, auch in Ihr Land.
In erster Linie ist Deutschland die mächtigste Volkswirtschaft Europas, die zudem in der Lage ist, diese unerwartete Last auf sich zu nehmen und einer anderen europäischen Nation als wahre Führungsmacht in der Europäischen Union eine helfende Hand zu reichen.
Wir bitten Sie, die notwendigen Recherchen durchzuführen und Auskunft darüber zu geben, welche Anzahl von Flüchtlingen aus der Ukraine Ihrer Meinung nach in welchem deutschen Bundesland aufgenommen werden kann. Wir bitten Sie darüber hinaus, mit der Schaffung der erforderlichen sozialen Infrastruktur für die Unterbringung einer erheblichen Zahl ukrainischer Flüchtlinge zu beginnen. Wir bitten Sie ebenso, entsprechende Anweisungen für den Beginn der Vorbereitung von Sozialwohnungen für Ukrainer und den Beginn der Schaffung einer Reserve von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Kleidung zu erteilen, um die Anzahl der Flüchtlinge, die Sie aufnehmen können, angemessen zu versorgen.
Wir hoffen, dass die Militärhilfe der Bundesregierung und anderer westlicher Regierungen für die Ukraine, die jetzt anläuft, uns in die Lage versetzen wird, unser Land gegen den Feind zu verteidigen und die Ukrainer an der Flucht zu hindern. Wir sind entschlossen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Wir wollen diesen Kampf gewinnen, um in unserem geliebten Heimatland, bleiben zu können. Wir müssen uns jedoch darauf einstellen, dass die Ukrainer gezwungen sein werden, die Ukraine zu verlassen und erst in einigen Jahren – nach dem Zusammenbruch Russlands – in ihre Heimat zurückzukehren.